Die Siesmayerstraße wurde ab 1934 zunächst als „Horst Wessel Straße“ in mehreren Etappen neu angelegt. Sie entstand nach dem Konkurs der Gebr. Siesmayer 1932 im Rahmen einer Wohnbebauung auf dem vormals Siesmayerschen Gelände (Elisabethenhain) der großen Baumschule von 1877, die die Gebr. Siesmayer aus Frankfurt – Bockenheim errichteten und betrieben.
– In dieser Beschreibung sprechen wir zur Unterscheidung von „Unterer“ Siesmayerstraße (Südbahnhof bis Goethestraße) und „Oberer“ Siesmayerstraße (Goethestraße bis Elisabethenstraße), da Konzeption und Errichtung zeitlich und auch konzeptionell voneinander abweichen. –
Verschiedene Varianten zur Bebauung des gesamten Gebietes wurden bereits seit 1928 (siehe Pläne im Hessischen Staatsarchiv) diskutiert, die Umsetzung fiel dann in die Naziherrschaft. Entsprechend wurde diese neue Straße so wie auch bereits bestehende andere Straßen nun nach Nazigrößen benannt, hier nach dem NS-Paramilitär und braunen Märtyrer Horst Wessel (1907 – 1930). Die Nationalsozialisten nutzten sofort die sich bietende Gelegenheit, dieses neu entstehende Wohngebiet auch von der Nutzung und „Belegung“ her nach ihren völkischen Vorstellungen zu errichten.
So entstand in der Oberen Siesmayerstraße die „Jakob Sprenger Siedlung“, während in der stadtnahem „Unteren Siesmayerstraße“ der Zuschnitt von Gebäuden und Grundstücken für „verdiente Parteigenossen“ großzügiger ausfiel.
Die Anlage der Jakob Sprenger Siedlung entstand im Zuge des „vom Führer bei der Machtergreifung verkündeten Siedlungsgedankens“, wobei diese sogenannten Siedlerstellen nicht nur zur Selbstversorgung der Bewohner beitragen, sondern auch „den Arbeiter mit der ‚Scholle‘ verbinden und ihn zu einem politisch zuverlässigen Träger des NS-Staates machen“ sollten. Dementsprechend stand der „Gemeinschaftsgedanke“, „der in nationalsozialistischem Sinne unter den Kameraden hier verwirklicht wurde“, im Vordergrund. Anders als beim Siedlungsbau der 20er Jahre, der bevorzugt aus Geschosswohnungen bestand, wurden für den nationalsozialistischen Siedlungsbau gartenumgebene Kleinhäuser vorgesehen. Sie entstanden aus rein pragmatischen sowie nationalistisch-ideologischen Überlegungen.
Interessant aber für die Zeit durchaus nachvollziehbar ist, das dies kein individueller Einzelfall in Vilbel sondern ein mehrfach angewandtes Siedlungskonzept war. So entstand beispielsweise in Darmstadt in der bis dahin mit Kiefernwald bewachsenen Darmstädter Waldkolonie eine vergleichbare Gebäudekonfiguration, die sog. „Frontkämpfersiedlung“, die im März 1934 in Anwesenheit von Gauleiter Jakob Sprenger begonnen wurde. (1)
Begonnen wurde zunächst mit dem Verlegen von Gleisen für eine Feldbahn, um in dem ursprünglichen Baumschulgelände ohne festes Terrain den Abtransport des Aushubs für Gebäude und Straße und die Anlieferung der Baumaterialien sicherzustellen.
Der Verlauf der „Horst-Wessel-Straße“ entsprach ungefähr dem Verlauf der „Apfelallee“ im Elisabethenhain und orientierte sich mit seinem geschwungen Verlauf entlang des Hanges wie schon bei Siesmayer an der Topographie des Geländes.
Einige Mitglieder unserer Anrainergemeinschaft haben Informationen zur Geschichte ihrer Straße zusammengetragen. Wir wollen sie hier für alle nachlesbar machen, konzentrieren uns allerdings zunächst auf die Beschreibung des Abschnittes der „unteren“ Siesmayerstraße, über den wir erstes historisches Material bereits vorliegen haben. Eine Ausweitung unserer geschichtlichen Beschreibung der Bebauung auf die gesamte Straßenlänge nehmen wir vor, sobald uns – auch sehr gerne mit Hilfe weiterer Anrainer – ausreichend Material zur Verfügung steht.
Der Durchstich der Straße 1934 an der Einmündung Höhe Südbahnhof
Die Bebauung begann 1934 und startete mit dem Durchstich der geplanten Straße auf die Taunusstraße (heute „Am Südbahnhof“), was auf dem Foto oben sehr gut zu sehen ist (Steinhaufen, davor Ausschachtung). In dem unteren Abschnitt der Straße startete die Bebauung zunächst auf der nordwestlichen Straßenseite (gerade Hausnummern), da diese Flurstücke als landwirtschaftliche Fläche zur Gesamtfläche des Pflanzbereichs der Baumschule gehörten und damit „am Stück“ umgeplant werden konnten, während die Flurstücke auf der anderen Straßenseite (ungerade Hausnummern) „noch“ mit Wirtschaftsgebäuden wie Rosenzuchthäusern, Packhaus, Verwaltungsgebäude (s.o.) usw. der Gebr. Siesmayer bebaut waren, der Grund zudem noch nicht vollständig parzelliert und baureif geräumt war. Das blieb auch in Teilen bis in die 1980er Jahre hinein so.
Die Bebauung der südöstlichen Seite der unteren Siesmayerstraße (ungerade Hausnummern) begann um 1937/38 mit den Hausnummern 23, 21, 19 Höhe Goethestraße, wobei die als einheitliches Ensemble gedachten Gebäude wegen der Bestandsbauten nur bis zu dem Grundstück des Stadtrechners / Stadtkämmerers (heutige Hausnummer 9) nach Plan realisiert werden konnten (weitere Ausnahme Grundstück N°11, das lange Obstgarten war und erst 1980 bebaut wurde). Das führte insgesamt dazu, dass die Straße nicht wie ursprünglich gedacht von Anbeginn beidseitig einheitlich architektonisch als Ensemble angelegt werden konnte. Die beiden Grundstücke am Kopf der Straße taten ein übriges, da sie der Querstraße „Taunusstraße“ heute „Am Südbahnhof“ zugeordnet sind.
Interessant ist auch, dass das Bebauungskonzept der Straße „hierarchisch“ angelegt wurde. Ganz vorne in Innenstadtnähe einige große Grundstücke (N° 1-3, 5-7) mit breiter Straßenfront (die damals beabsichtige aber nie realisierte Nutzung deutet auf „verdiente“ Bürger hin), dann mittelgroße Parzellen mit stets 10m Straßenfront gefolgt ab der Querung der Goethestraße von schmaleren aber tiefen Grundstücken für Gelegenheit zur Eigenbewirtschaftung.
Die ersten Grundstücke sind daher bis heute mit ihren Hausnummern zusammengefaßt, es gibt nur die N°1 und 7, dann die N°9 ff. Neu hinzugekommen ist 2019 kein weiteres Gebäude, aber für einen separaten rückseitigen Hauseingang rein organisatorisch eine Hausnummer 1a .
Diese beschriebene Entwicklung der Straße beantwortet auch die Frage, dass die scheinbar „abweichende“ Bebauung von N°1-7 kein Argument ist, den Kernbestand des Ensembles mit einer freien Neubebauung zu durchbrechen.
Vogelperspektive um 1938/39
Die Einmündung der Siesmayerstraße / Ecke Am Südbahnhof
1934 und heute
Wer von den Vilbeler Bürgern in der neuen Siedlung ein Haus bauen wollten, musste im Übrigen zunächst in eine der Naziorganisationen eintreten!
Erhalten hat sich dank der Umsicht vieler der Hauseigentümer bis heute in der unteren Siesmayerstraße (bis zur querenden Goethestraße) mehrheitlich ein einheitliches Ensemble von Häusern, das den damals konzipierten Charakter der Straße bis heute prägt. Viele architektonische Details dieses schlichten und funktionalen Baustils haben die 90 Jahre an den Gebäuden überdauert, ob Gewände, Eingangsbereiche, o.ä.
Eine Besonderheit in der damals neu angelegten Straße war auch die vorgeschriebene ausschließliche Verwendung von Einfriedungen mit Holzelementen zwischen Betonwerkstein, die der in Deutschland kriegsbedingt bestehenden Beschränkung bzgl. der Verwendung von Eisen geschuldet war! Die Betonelemente mit ihrem Dekor haben sich an einigen der Grundstücke bis heute erhalten wie beispielsweise an der Hausnummer 4:
Unmittelbar nach Ende des 2. Weltkrieges und der damit verbundenen Entnazifizierung, die auch die Rück- / Umbenennung von Straßen und Plätzen umfasste, die nach nationalsozialistischen Persönlichkeiten benannt waren, wurde die Horst- Wessel-Straße dann sehr angemessen in „Siesmayerstraße“ umbenannt. Die damals noch sehr kurze „Heinrichstraße“, benannt nach Heinrich Siesmayer, wurde zu Ehren des Bürgermeisters Kurt Moosdorf umbenannt, auch weil in der Bezeichnung der langen Siesmayerstraße Heinrich wie auch Philipp und alle Gebr. Siesmayer uncludiert sind. Die Kurt Moosdorf Straße wurde dabei in den Hang hinein verlängert.
Leider gibt es für die untere Siesmayerstraße keinen Ensembleschutz. Hoffen wir, dass künftige Bauherren mit gleicher Leidenschaft zur Bewahrung des Charakters dieser Straße ihren Beitrag leisten wie bisher und ein aktueller Neubau mitten im Ensemble die mahnende „Ausnahme“ bleibt.
Unsere Straße feiert in diesem Jahr ihr 90. Jubiläum, 79 Jahre davon als Siesmayerstraße. Sie ist mit ihrer Geschichte ein in mehrfacher Hinsicht wichtiges Zeugnis der Vergangenheit.
Diese Zusammenstellung ist der erstmalige Versuch, die interessante Geschichte der Entstehung der Siesmayerstraße zu beschreiben. Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wir freuen uns, wenn sich durch diese Veröffentlichung Anrainer und Bürger angesprochen fühlen, weitere Hinweise, Dokumente, Fotos, Pläne, Schilderungen aber gerne auch Korrekturen zu geben, die die Geschichte der Entstehung dieser Straße weiter abrunden.
Wir danken allen beteiligten Anrainern, dem Team des Stadtarchivs Bad Vilbel, dem Hessischen Staatsarchiv in Darmstadt und Marburg sowie dem Fritz Bauer Institut Frankfurt
(1) Durth, Werner / Nerdinger, W.: Architektur und Städtebau der 30er / 40er Jahre, Schriftenreihe des deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz, Band 46, 1993.